Unter diesem Leitwort nahm Mag. Peter Rosegger, MBA, Leiter Wirkfeld “lernen&leben”, in einem Impulsreferat am 18. September 2019 im Rahmen der diesjährigen Pfarrerwoche auf Schloss Seggau Bezug auf aktuelle Perspektiven und Herausforderungen in Kirche und Gesellschaft. 

 

Subsidiarität – der zweite Vorname der Freiheit

 

Impulsreferat bei der Pfarrerwoche auf Schloss Seggau am 18. September 2019

 

„Das Projekt der Moderne war ein Befreiungsunternehmen, es war die stolze und rechtmäßige Feier der menschlichen Autonomie. … Doch jetzt, so scheint es, wird die moderne Gesellschaft von dem eingeholt und bedroht, von dem sie sich so triumphal befreit hat – von der Natur.“

 

Diese These formuliert Thomas Assheuer in der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit vom 5. September 2019. Unter dem Titel Der Teufel trägt Öko (S. 59f.) verhandelt er vor dem Hintergrund des Klimawandels die Freiheit des Menschen. „Wenn die Klimawende alsternativlos ist, was bleibt uns dann? Kommt die Freiheit an ihr Ende? … Gibt es ein Verständnis von Freiheit, das die Freiheit begrenzt – und doch frei bleibt?“, so Assheuer.

 

Ohne diese These, die mit einer Reflexion über Populismus und sogenannte alternative Fakten verbunden ist, hier analysieren zu können, drängt sich eine wesentliche Frage auf: Wie ist es um die Freiheit des Menschen heute bestellt, die das Grundversprechen der modernen Demokratie ist? Der Mensch als von Gott geschaffenes Wesen hat unveräußerliche Rechte: ´Life, Liberty and the pursuit of Happiness´ heißt es in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika.

 

Ist die Freiheit heute 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer bedroht oder ist sie selbst gefährlich? In der Erzählung vom Großinquisitor beschreibt Fjodor Dostojewski wie Christus auf die Erde zurückkehrt und von der Inquisition festgesetzt wird. Der Großinquisitor beschimpft ihn und sagt, wie könne er – Christus – es wagen, das Werk der Kirche stören: „Hast du nicht damals oft gesagt: Ich will euch frei machen? Jetzt hast du diese ´freien´ Menschen gesehen! … Ja, dieses Werk hat uns viel Mühe gekostet! … Aber wir haben es in deinem Namen doch glücklich zu Ende geführt. Fünfzehn Jahrhunderte haben wir uns mit dieser Freiheit abgequält – jetzt ist es mit ihr zu Ende, gründlich zu Ende.“ (Die Brüder Karamasow, https://gutenberg.spiegel.de/buch/die-bruder-karamasow-2095/6)

 

Wie sieht eine recht verstandene Freiheit aus? Und viel wichtiger: Wie müssen wir als Christinnen und Christen mit unserer eigenen Freiheit und der unserer Mitmenschen in einer pluralen Gesellschaft umgehen? Was bedeutet eine ´freie Kirche in einem freien Staat´? Wie kann unsere Kirche heute ihre prophetische Dimension in der Demokratie entfalten?

 

Freiheit ist das Grundversprechen des Christentums, sie gehört zu seiner DNA. Im Buch Exodus lesen wir als Introitus zu den Zehn Geboten: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.“ (Ex 20, 2). Zu Beginn seines öffentlichen Wirkens sagt Jesus, der Herr „hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“ (Lk 4, 18.19)

 

Die Magna Charta der Freiheit finden wir zu Beginn der Bibel. Sie gibt uns den Rahmen für das heutige Thema: die Subsidiarität. Die Erzählungen von der Erschaffung des Menschen beschreiben seine Gottesebenbildlichkeit und seine Freiheit: „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. Gott segnete sie und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch“. (Gen 1, 27.28) Den Freiheitsraum gibt Gott dem Menschen mit auf den Weg: „Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte.“ (Gen 2, 15)

 

Meine erste These lautet daher: Subsidiarität ist persönlich. Sie ist zuerst und zuletzt eine grundlegende Facette der individuellen, unhintergehbaren und einzigartigen Person. Gott hat den Menschen als ein freies Wesen erschaffen, mit der Fähigkeit, zu wachsen und zu reifen. Den bunten Garten seines eigenen Lebens, den Garten der Kirche und der Gesellschaft soll er in Gemeinschaft bebauen und hüten.

 

Subsidiarität kennzeichnet somit ein eigenständiges, eigenverantwortliches und regelgeleitetes Verhalten. Eigenständig in der Entfaltung von Wissen und Talenten. Eigenverantwortlich mit Gott als unaufdringlichem Wegbegleiter. Regelgeleitet in der kritischen Reflexion des Wortes Gottes. Subsidiarität umfasst, das, „was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann“ (Papst Pius XI., Quadragesimo anno 79)

 

Es gibt daher keine monolithische Art ihrer Anwendung. Sie widersetzt sich, „allen Formen des Kollektivismus“. (Katechismus der katholischen Kirche, Art. 1885) Sie ist vielmehr ein „Zuständigkeitsprinzip“ (LThK2, Bd. 9, S. 918ff.). Der Mensch ist für sein Leben verantwortlich und die Gesellschaft muss Rahmenbedingungen schaffen, die ihm eine „´Grundchance´ der Persönlichkeitsentfaltung sichern“. (Ebd., S. 918ff.)

 

Das ist keine kleine Einsicht: Institutionen sind für den Menschen da und nicht umgekehrt. Freiheit und Subsidiarität sind weder ein Fehler in der Matrix noch eine Betriebsstörung auf dem Weg zur Einsicht. Pater Ermes Ronchi OSM schreibt über diese ´Freiheit eines Christenmenschen´ in seinem Buch Die nackten Fragen des Evangeliums: „Als Gläubige sind wir nicht Vollstrecker von Befehlen, sondern Menschen, die voller Erfindungsgeist Wege bahnen. Nicht Arbeiter, welche die Anweisungen eines Herrn befolgen, sondern Künstler unter der Inspiration des Heiligen Geistes.“ (S. 31)

 

Diese Erkenntnis hat persönliche und ekklesiologische Konsequenzen. Unsere Kirche ist Kirche auf dem Weg, eine sich entwickelnde Gemeinschaft. Ermes Ronchi bezieht sich in seiner Auslegung der wachsenden und reifenden Kirche auf die biblische Erzählung vom Sturm auf dem See (Mk 4, 35-41): „Im Hafen sind die kleinen Boote sicher, aber dafür wurden sie nicht gebaut … Das kleine Boot, Aufbruch, das offene Meer – dafür steht das Evangelium, nicht für das unbewegliche Verharren im sicheren Hafen.“ (S. 31)

 

Unsere Kirche ist nicht dafür da, im Hafen darauf zu warten, dass Menschen das Boot bestaunen oder es unentgeltlich renovieren. Oder den Garten Gottes mit einer Mauer und einer Zollstation zu umgeben. Wir sollen ihn vielmehr wachsen und reifen lassen, für jene, die darin wohnen, für jene, die darin wohnen wollen, und besonders für jene, die nicht darin wohnen.

 

Unsere Kirche muss sich in einer heterogenen und komplexen Welt wie heute vielen Veränderungen aktiv stellen, will sie weiterhin eine ethisch, intellektuell und spirituell satisfaktionsfähige und positiv prägende Kraft sein. Sie darf nicht nur abgeschlossene Gruppen, bequeme Nischen oder Partikularthemen betreuen, sondern muss versuchen, Weite und Tiefe im Blick auf das Ganze von Mensch und Welt angemessen zu verbinden.

 

Es geht nicht um Selbst-Sicherheit – Papst Franziskus spricht von einer ´um sich selbst kreisenden Kirche´ und Papst Benedikt XVI. von einer ´selbstbezogenen Gruppe´ – sondern einzig und allein um eine Frage: Was muss ich heute tun, damit Du hier und jetzt in Deinem Leben und damit in Deiner Freiheit und in Deiner Subsidiarität wachsen und reifen kannst?

 

Papst Franziskus hat das in das beeindruckende Wort gekleidet, wir müssen als Kirche so handeln, „damit alle stets lernen, vor dem heiligen Boden des anderen sich die Sandalen von den Füßen zu streifen (vgl. Ex 3,5).“ (Evangelii gaudium 169) Das Zukunftsbild unserer Diözese zitiert dieses Wort dementsprechend an prominenter Stelle, wenn es den Auftrag der Kirche in der Steiermark beschreibt. (S. 7)

 

Subsidiarität ist persönlich. Der Mensch lässt sie sich zurecht nicht nehmen. Unsere Kirche wird heute ihren Auftrag daher nur dann erfüllen, wenn sie subsidiäre Strukturen in der Gesellschaft fördert und selbst vorlebt. Tun wir als Kirche alles dafür, jedem Menschen eine solche ´Grundchance der Persönlichkeitsentfaltung´ zu ermöglichen.

 

Subsidiarität ist mitunter mühsam, chaotisch und fehlgeleitet, sie ist jedoch zutiefst menschlich. Fördern, schützen und lernen wir von ihm, dem liebenswerten, kreativen Menschen, den wir nie ganz verstehen werden. Papst Franziskus sagt: „Wer alles ganz klar und deutlich haben will, beabsichtigt, die Transzendenz Gottes zu beherrschen.“ (Gaudete et exsultate 41) Folgerichtig heißt es deshalb im Zukunftsbild: „KircheSein heißt leben mit einem, der lebt.“ (S. 5)

 

Meine zweite These lautet daher: Subsidiarität ist prophetisch. Als das Erzbistum Hamburg aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten beschlossen hat, seine Ressourcen im Bereich Bildung zu minimieren, um die territoriale Seelsorge finanziell weiterhin gewährleisten zu können, veröffentlichte Pater Klaus Mertes SJ im Februar 2018 dazu eine kritische Anmerkung unter dem Titel Ohne Schulen kann die Kirche abdanken.

 

„Als der heilige Ignatius einmal gefragt wurde, wie man der Kirche in Deutschland wieder auf die Beine helfen könnte, antwortete er mit einem Wort: ´Kollegien´. Übersetzt: ´Schulen´, oder auch: ´Bildung´ … Das Problem, das die Kirche heute hat, kann man so zusammenfassen: Sie antwortet auf dieselbe Frage mit: ´Gemeinden´. Schulen sind im Ernstfall sekundär. Sie sind kostenintensiv und nicht leicht zu beackern. … Alle gesellschaftlichen Probleme kommen dort vor, es gibt kein Entrinnen vor bohrenden Fragen und komplexen Konflikten. Früchte der Arbeit werden erst sehr spät sichtbar, manchmal nie. … Meine Vision .. lautet: Baut Schulen! Ohne Schulen kann die Kirche in Deutschland abdanken. Nur mit Schulen bleibt sie eine lebendige, missionarische Kirche.“ (https://www.katholisch.de/artikel/16611-ohne-schulen-kann-die-kirche-abdanken) Soweit aus dem Text von Pater Mertes.

 

Ich glaube, es geht ihm nicht darum, verschiedene Grundvollzüge von Kirche gegeneinander auszuspielen. Er möchte vielmehr sagen: Will unsere Kirche eine Relevanz für Menschen haben, dann muss sie sich jeder verfügbaren Vielfalt dieses Lebens aktiv stellen. Sie muss hinausgehen „aus der eigenen Bequemlichkeit und den Mut .. haben, alle Randgebiete zu erreichen, die das Licht des Evangeliums brauchen.“ (Evangelii gaudium 20) Subsidiarität ist prophetisch, da das Individuum uns mit seinem konkreten Leben etwas Prophetisches zu sagen hat. Seine Subsidiarität ist der Ort, an dem wir sein müssen.

 

Die Randgebiete sind das Zentrum des Lebens, an dessen Rand wir als Kirche stehen und staunen dürfen. Das Zukunftsbild verweist daher auch in Hinblick auf „neue Erfahrungsräume von Kirche“ (S. 13) und zumal in Hinblick auf die m. E. immer wichtiger werdende kategoriale Seelsorge auf den Beginn der Kirchenkonstitution Lumen gentium und auf die grundlegende Bedeutung von „Qualität und Vielfalt“ (S. 23). Das Argument von Pater Mertes für Schulen ist gerade der Grund ist, warum wir aus vollem Herzen Ja zu solchen vielfältigen und mitunter mühsamen und brotlosen Orten sagen müssen.

 

Für uns als Ecclesia de eucharistia gibt es keine brotlosen Orte, wenn wir unser Brot teilen. Kein Gefängnis, kein Hospiz, kein Pflegeheim, kein Krankenhaus, keine Schule ist dann brotlos. „Im Teilen wird es [das Brot] mehr. Hätte einer nichts weitergegeben, sondern alles für sich behalten, wäre es vorbei gewesen, das Brot wäre ausgegangen, der Traum zerplatzt.“ (Die nackten Fragen des Evangeliums, S. 115), so Ermes Ronchi. Solidarität mit Menschen und mit ihrem Leben ist, wie der italienische Bischof Luigi Bettazzi in Hinblick auf die Eucharistie sagt, „das Hauptmerkmal der christlichen Glaubenspraxis.“ (Das Zweite Vatikanum. Neustart der Kirche aus den Wurzeln des Glaubens, S. 110)

 

Wir brauchen uns dabei nicht zu überfordern oder in einen bloßen Aktionismus zu verfallen. Es geht vielmehr um die Haltung, Gott nachzuahmen, „um eine Bresche ins Herz des Menschen zu schlagen, um jenen Türspalt zu finden, durch den seine Gnade eindringen kann.“ (Papst Franziskus, Der Name Gottes ist Barmherzigkeit, S. 56)

 

Bei all dem brauchen wir inspirierte und kompetente Mitarbeitende, die willens und in der Lage sind, so auf Gott, auf die lebensspendende Botschaft des Evangeliums zu vertrauen, dass es immer weniger brotlose Orte gibt. Die Herausforderung, komplexe Fragen in verschiedenen kirchlichen Grundvollzügen heute inmitten einer heterogener werdenden Gesellschaft gleichzeitig und proaktiv anzunehmen, wird jedenfalls zunehmen. Der positive Umgang mit diesen vielfältigen Dynamiken wird für eine vitale Kirche wesentlich sein. Mit einer Excel-Tabelle ist es nicht getan. (Papst Franziskus, Weihnachtsansprache an die Kurie 2014, Punkt 4)

 

Lebendigkeit und Prägekraft unserer Kirche werden stark davon abhängen, inwieweit es uns gelingt, Menschen in Freiheit zu befähigen, ihre Prinzipien theologisch, fachlich, strategisch und kommunikativ adäquat und in Hinblick auf das Gemeinwohl zu gestalten. Wesentlich sind dabei die Gestaltung von Rahmenbedingungen zum adäquaten Umgang mit der entscheidenden Ressource Wissen und eine damit verbundene Personal- und Organisationsentwicklung auf allen Ebenen, die Eigeninitiative, Beteiligung und Engagement im Blick auf das Ganze fördert.

 

Für all das ist eine Initiative nötig, „die ein kritisches Denken lehrt und einen Weg der Reifung in den Werten bietet.“ (Evangelii gaudium 64) Eine solche Personalentwicklung ist eine Verdichtung pastoralen und interdisziplinären Denkens. Im Kern geht es um „eine kognitive Wende im strategischen Denken, das sich von einer primären Orientierung an einem präskriptiven, normativen, lernunwilligen Erwartungsstil verabschiedet, um sich den nötigen Freiraum für Wissensbasierung, Lernfähigkeit und Kontextsteuerung zu schaffen.“ (Helmut Willke, Einführung in das systemische Wissensmanagement, S. 72)

 

Subsidiarität ist prophetisch. Sie zeigt uns wie eine Leuchtrakete, wo die Menschen sind. Sie leuchtet dorthin, wo alle ´gesellschaftlichen Probleme …. [vorkommen und es] kein Entrinnen vor bohrenden Fragen und komplexen Konflikten [gibt]´, und wo wir sein müssen. Sie zeigt uns, wo die Kirche im Aufbruch ist. Nicht im sicheren Hafen, sondern auf dem freien, aufgewühlten See.

 

Meine dritte These lautet daher: Subsidiarität ist solidarisch. In seinem 2018 erschienenen Werk Der Tyrann. Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert setzt sich der US-amerikanische Literaturprofessor Stephen Greenblatt mit den Voraussetzungen für Populismus, Extremismus und Resignation auseinander. Das tut er mittels der Figuren aus Shakespeares Stücken, eben jener Tyrannen wie Macbeth oder Richard III., aber auch mittels jener Personen, die ihre Tyrannei erst ermöglichen oder die sich ihr widersetzen.

 

In seiner Analyse des berühmtesten dieser Schurken – König Macbeth – befasst sich Stephen Greenblatt mit dessen Beziehung zu seinem besten Freund Banquo, der sich zuerst zu seinem Mahner und dann zu seinem Gegner wandelt. Macbeth will ihn und seinen Sohn töten, weil eine Prophezeiung sagt, Banquo werde der Vater von Königen. Schließlich lässt Macbeth, wie alle Tyrannen paranoid, Banquo ermorden, dessen Sohn jedoch kann entkommen.

 

Stephen Greenblatt dazu: „Es ist der kranke Traum der Tyrannei, nicht nur die Gegenwart zu vergiften, sondern auch künftige Generationen, um sich ewig auszubreiten. Nicht allein die Erfordernisse der Handlung machen Macbeth … zum Kindermörder. Tyrannen sind Feinde der Zukunft.“ (S. 121)

 

Tyrannen sind Feinde der Zukunft, weil sie alles kontrollieren wollen, und letztlich nur ein Programm haben: sich selbst. Das oftmals garniert mit dem Deckmantel des angeblich Guten für die Menschen, der Staatsräson oder der Tradition. Tyrannei erstickt die Subsidiarität. Wir Christinnen und Christen sind demgegenüber Freunde der Zukunft. Freunde der unbekannten Zukunft dieses einzigartigen, verhaltensoriginellen, von Gott geliebten Menschen. Wir sollen sie bebauen und hüten, damit sie nicht brotlos ist.

 

Unsere Kirche ist dafür da, diesem Menschen seine Zukunft in Christus zu ermöglichen. Auf die Frage, wieviele Wege es zu Gott gebe, hat Kardinal Joseph Ratzinger gesagt: „So viele, wie es Menschen gibt.“ (Salz der Erde, S. 35) Auch das Zukunftsbild zitiert dieses Wort (S. 23), leider ohne die Quelle zu nennen.

 

Für uns als ´Kirche im Aufbruch´ (Evangelii gaudium 19-49) bedeutet das: Wir müssen uns auch gesellschaftlich an die Seite dieser subsidiären Freiheit stellen. Und wir müssen das in einer Haltung tun, die sich nicht damit zufrieden gibt „moralische Gesetze anzuwenden, als seien es Felsblöcke, die man auf das Leben von Menschen wirft“, wie Papst Franziskus festhält. (Amoris laetitia 305)

 

Er entwickelt vielmehr für die gesellschaftliche Relevanz unserer Kirche ausgehend von den vier Prinzipien der Katholischen Soziallehre vier Elemente, die „die Entwicklung des sozialen Zusammenlebens und den Aufbau eines Volkes leiten, wo die Verschiedenheiten sich in einem gemeinsamen Vorhaben harmonisieren.“ (Evangelii gaudium 221) Der Subsidiarität ordnet er in einer gedanklich sehr kreativen Verknüpfung das Prinzip ´Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee´ zu. (Evangelii gaudium 231-233) Das ist auf den ersten Blick verblüffend, erklärt sich jedoch aus der Personorientierung von Offenbarung, Überlieferung und Soziallehre.

 

Subsidiarität muss von der konkreten Realität der menschlichen Person ausgehen und diese normativ in die Ideenfindung integrieren. „Die Idee … dient dazu, die Wirklichkeit zu erfassen, zu verstehen und zu lenken. … Die Wirklichkeit steht über der Idee. Dieses Kriterium ist verbunden mit der Inkarnation des Wortes und seiner Umsetzung in die Praxis“. (Evangelii gaudium 232-233)

 

Es ist eine zutiefst theologische Erkenntnis, dass – ebenso wie die Option für die Armen (Evangelii gaudium 198) – Christus, der für uns arm wurde, uns so den Weg zur Erkenntnis öffnet, dass die Wirklichkeit über der Idee steht. Oft geraten wir jedoch in Versuchung, in eine Haltung des ´Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!´ einzutauchen und Ressentiments zu bedienen. Immerhin kann man damit auch populistischen Erfolg haben, wenngleich weit entfernt vom Versprechen von ´Life, Liberty and the pursuit of Happiness.´

 

Papst Paul VI. hat einmal gesagt, unsere ´Kirche braucht Zeugen´ (Evangelii nuntiandi 41). Zeugen, die heute an die eigene Botschaft glauben, sie lieben, sie – im Rahmen des menschlich Möglichen – kompetent auslegen und damit ein Angebot an die Gesellschaft machen. Dazu gehört auch, dass wir Menschen ermutigen, sich aktiv und subsidiär am gesellschaftlichen Prozess zu beteiligen. Dies in einer Haltung der ´armen Kirche für die Armen´ und der ´Entweltlichung´. Nur dann bilden wir eine „Solidar-, Gebets- und Lerngemeinschaft“ in Kirche und Welt, wie das Zukunftsbild (S. 15) postuliert.

 

„Wie könnte man weiterhin einer Kirche vertrauen, die man als allzu besorgt um den sicheren Fortbestand der eigenen Institutionen wahrnimmt? Und wie einer Kirche, die vordergründig einige ´nicht verhandelbare Prinzipien´ vertritt, während sie gleichzeitigt schweigend blutige Diktaturen toleriert?“, fragt Bischof Luigi Bettazzi in einer Reflexion über das Diktum Papst Pauls VI. (S. 105)

 

Unsere Kirche muss in ihrer oft scheinbar brotlosen täglichen Arbeit in ihren Grundvollzügen glaubhaft und ehrlich vorleben, dass es schön ist, Christ zu sein, dass es „bei uns anders“ ist, wie Jesus im Evangelium als Imperativ vorgibt. (Lk 22, 26) So einfach, so unendlich schwierig, aber sonst ist alles wirklich brotlos. Dazu brauchen wir Glaube, Mut und die Einsicht, nicht die Dinge richtig zu tun, sondern die richtigen Dinge. Wir brauchen eine konsequente, wissens- und kompetenzorientierte Personalentwicklung, unter besonderer Beachtung einer entsprechenden theologischen Kompetenz, auf die das Zukunftsbild explizit hinweist. (S. 19) Unsere Kirche muss ihren Auftrag ja auch dann erfüllen, sollte es morgen keinen Kirchenbeitrag und kein Konkordat mehr geben.

 

Subsidiarität ist solidarisch. Wir leben unsere Freiheit als Kirche dann gut, wenn wir das, was die Menschen uns durch ihre ´strebenden Bemühungen´, wie es in Goethes Faust (Teil II, Fünfter Akt) heißt, als Prophetie aufgeben, „im Lichte des Evangeliums“ (Gaudium et spes 4) deuten. Auf diese Haltung kommt es an, sonst ist jedes gesellschaftliche Engagement unserer Kirche nur Klientelpolitik zum eigenen Ruhm. Nur in dieser Haltung kann man m. E. „klare Ziele formulieren, unsere Ressourcen neu .. ordnen und verantwortungsvoll [einsetzen]“, wie unser Herr Bischof in der Einleitung zum Zukunftsbild (S. 3) als Orientierung schreibt.

 

Ich schließe daher mit einem Wort, das dem heiligen Bischof Augustinus zugeschrieben wird. Er wirkte in einer ähnlich pluralen Veränderungssituation, wie wir heute, und hat uns als Fixstern aufgegeben: „In necessariis unitas, in dubiis libertas et in omnibus caritas.“

Im Bild: Mag. Rosegger auf Schloss Seggau im Rahmen des Pfingstdialogs “Geist&Gegenwart” 2019.